Die neuen ICC Force Majeure- und Hardship-Klauseln (März 2020)
von Guido Imfeld
Das Konzept der Höheren Gewalt (auch als Force Majeure bezeichnet) ist in den meisten Rechtsordnungen bekannt, aber die in den nationalen Gesetzen oder in der Rechtsprechung hierzu entwickelten Grundsätze können erhebliche Unterschiede aufweisen. Um dieses Problem zu überwinden, neigen die Parteien dazu, sich auf vertraglich gestaltete Lösungen zu verständigen, indem sie in ihre Verträge (einschließlich ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen) Klauseln für den Fall des Auftretens von Leistungshindernissen aufgrund höherer Gewalt aufnehmen, die für diese Fälle Rechtsfolgen vorsehen, die nicht von den Besonderheiten der nationalen Gesetze abhängen. Um die Parteien bei der Ausarbeitung und Aushandlung solcher Klauseln zu unterstützen, stellt die Internationale Handelskammer, Paris (International Chamber of Commerce - ICC) Musterklauseln für Fälle der höheren Gewalt zur Verfügung.
Es gibt eine umfassende, lange Formulierung und eine kürzere Formulierung, jeweils als "Langform" (Long Form) und "Kurzform" (Short Form) bezeichnet.
Die ICC-Longform für Höhere Gewalt kann dabei entweder direkt in den Vertrag oder in die Allgemeinen Geschäftsbedingungen aufgenommen werden oder durch Verweis durch die Aussage "Die ICC-Klausel für höhere Gewalt (Langform) findet auf den in den vorliegenden Vertrag Anwendung" einbezogen werden. Die Parteien können die Klausel selbstverständlich auch als Grundlage für den Entwurf einer auf ihre Bedürfnisse abgestimmten maßgeschneiderten Klausel verwenden.
Sollten die kürzere Klausel bevorzugt werden, können die Vertragsparteien die "Kurzform" der ICC-Klausel für Höhere Gewalt in ihren Vertrag aufnehmen.
Die Langform ist umfassender und behandelt Einzelfälle und Details, zu denen die Kurzform keine Aussage trifft.
Neben der Fallgestaltung des Auftretens eines Ereignisses der höheren Gewalt gibt es auch Änderungen der Umstände, die sich nicht als höhere Gewalt qualifizieren lassen, jedoch die Leistungserbringung für eine der Parteien unzumutbar macht. Die Situation wird durch die sogenannte Hardship-Clause abgebildet.
Force Majeure - Long Form
Soweit die Definition, was Höhere Gewalt ist, betroffen ist, stellt die ICC-Klausel für Höhere Gewalt einen Kompromiss zwischen den allgemeinen Anforderungen an höhere Gewalt, die in allen Fällen tatbestandlich vorliegen müssen, und der Regelung von Ereignissen her, bei Vorliegen derer angenommen wird, dass sie außerhalb der Kontrolle der Parteien liegen und zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses nicht vorhersehbar waren. Zu diesem Zweck enthält die ICC-Klausel für Höhere Gewalt eine allgemeine Definition (Absatz 1) und eine Liste von Ereignissen Höherer Gewalt, bei denen anzunehmen ist, dass Höhere Gewalt vorliegt (Absatz 3). Vorsorglich sollten die Vertragsparteien die Auflistung jedoch daraufhin untersuchen, ob die dort definierten Ereignisse Höherer Gewalt ihren spezifischen oder vertraglichen Bedürfnissen entsprechen. Gegebenenfalls sind sie nach Maßgabe des Pflichtenregimes - also bei der Frage, welches spezifische Risiko die eine oder andere Vertragspartei übernehmen soll - zu streichen oder zu ergänzen.
Die Rechtsfolge des Einwandes der Höheren Gewalt liegt darin, dass die betroffene Partei ab dem Zeitpunkt des Eintritts des Ereignisses solange von ihrer Leistungspflicht und vor allem der Verpflichtung zur Leistung von Schadenersatz befreit wird, bis das Leistungshindernis wegfällt oder gegebenenfalls feststeht, dass die Leistung dauerhaft nicht mehr erbracht werden kann. Voraussetzung ist in jedem Fall, dass die von dem Leistungshindernis betroffene Partei der anderen Partei das Vorliegen Höherer Gewalt ordnungsgemäß anzeigt.
Die Definition von Höherer Gewalt in der ICC-Klausel sieht eine niedrigere Schwelle für die Berufung auf die Klausel vor als die Unmöglichkeit der Leistung vor. Dies wird durch den Hinweis auf die Angemessenheit in den Bedingungen (a) bis (c) der Klausel bewirkt.
Mit der Formulierung des Absatzes 2 soll ausgeschlossen werden, dass die Nichterfüllung durch einen Dritten oder Subunternehmer als solche ipso facto als höhere Gewalt anzusehen ist. Die betroffene Partei muss nachweisen, dass die Bedingungen Höherer Gewalt auch für die Nichterfüllung durch den Dritten erfüllt sind, wofür auch die Vermutung des Absatzes 3 dieser Klausel gilt.
Die vermuteten Ereignisse Höherer Gewalt gemäß Absatz 3 werden allgemein als Höhere Gewalt bezeichnet. Es wird daher vermutet, dass bei Vorliegen eines oder mehrerer dieser Ereignisse die Bedingungen Höherer Gewalt erfüllt sind. Aufgrund dieser vertraglichen Vermutung entfällt für die betroffene Partei die Verpflichtung, bei Vorliegen der jeweiligen Tatbestände zu beweisen, dass diese Umstände außerhalb ihrer Kontrolle liegen, wobei es der anderen Partei freisteht, das Gegenteil zu beweisen. Die Partei, die sich auf höhere Gewalt beruft, muss aber in jedem Fall das Vorliegen der jeweiligen Tatbestände und den Umstand, dass die Auswirkungen des Hindernisses vernünftigerweise nicht vorhersehbar waren und hätten vermieden oder überwunden werden können, darlegen.
Die Klausel ist selbstverständlich disponibel. D. h., die Parteien können je nach Situation und Interessenlage die Liste um spezifische Tatbestände erweitern oder einzelne Punkte streichen, z.B. indem sie hoheitliche Maßnahmen oder Ausfuhrbeschränkungen nicht als Höhere Gewalt definieren, wenn zum Beispiel nach Vertrag eine der Parteien das Risiko hierfür ausdrücklich zu übernehmen hat. Auch ist denkbar, zum Beispiel Arbeit Maßnahmen, die das eigene Unternehmen betreffen - im Gegensatz zu allgemeinen Streikmaßnahmen - als dem persönlichen Risiko eine der Parteien unterfallend zu definieren.
Absatz 5 stellt klar, dass die betroffene Partei von der Erfüllung ihrer Verpflichtungen, die von der Höheren Gewalt betroffen sind, ab dem Eintritt des Hindernisses befreit ist, vorausgesetzt, dass sie die andere Partei rechtzeitig benachrichtigt hat. Um zu vermeiden, dass sich die betroffene Partei erst zu einem späteren Zeitpunkt (z.B. wenn die andere Partei die Nichterfüllung geltend macht) auf Höhere Gewalt beruft, ohne dass eine rechtzeitige Mitteilung erfolgt, werden das Recht, sich auf das Vorliegen eines Ereignisses der Höheren Gewalt zu berufen, bis zum Eingang der Mitteilung aufgeschoben.
Die andere Partei kann die Erfüllung ihrer Verpflichtungen nach Erhalt der Mitteilung aussetzen, soweit diese Verpflichtungen im Synallagma, d. h. im Verhältnis der Gegenseitigkeit zu den aufgrund des Ereignisses der Höhere Gewalt behinderten Leistungsverpflichtungen stehen und ausgesetzt werden können.
Absatz 8 beinhaltet eine allgemeine Regel, um im Einzelfall festlegen zu können, wann die Dauer des Hindernisses für die andere Partei zur Unzumutbarkeit führt, sodass sie berechtigt ist, den Vertrag zu kündigen. Dies ist insbesondere von Bedeutung, weil zum Beispiel Art. 79 CISG die Pflicht zur Leistungserbringung suspendiert, sie jedoch nicht entfallen lässt. Um die Sicherheit und Vorhersehbarkeit zu erhöhen, ist eine Höchstdauer von 120 Tagen vorgesehen, die natürlich durch Vereinbarung der Parteien entsprechend ihren Bedürfnissen geändert werden kann.
Force Majeure - Short Form
Die Kurzform ist eine reduzierte Version der Langform, die sich auf einige wesentliche Bestimmungen beschränkt. Sie ist für Benutzer gedacht, die in ihren Vertrag eine ausgewogene und gut formulierte Standardklausel aufnehmen wollen, die die wichtigsten Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen können, abdeckt.
Die Verwender müssen sich allerdings darüber im Klaren sein, dass diese Kurzform naturgemäß einen begrenzten Anwendungsbereich hat und nicht notwendigerweise alle Fragen abdeckt, die im spezifischen Kontext des Vertrages und des Geschäfts relevant sein können. Wenn dies der Fall ist, sollten die Parteien eine spezifische Klausel auf der Grundlage der ICC-Langform entwerfen.
Wir empfehlen grundsätzlich die Langform, weil in den meisten Fällen aufgrund der mittlerweile üblich gewordenen elektronischen Übermittlung von Vertragsdokumenten die Länge des Vertragstextes keine große Rolle mehr spielt.
ICC-Hardship Clause
Einige nationale Rechtsordnungen enthalten Regelungen zu Härtefällen, die die durch den Härtefall benachteiligte Partei für den Fall schützen sollen, dass aufgrund von zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht vorhersehbaren Umstände die Leistungserbringung für eine Partei unzumutbar wird. Im deutschen Recht wird dies durch das Rechtsinstitut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) abgebildet.
Nicht alle Rechtsordnungen enthalten jedoch solche Regeln. Teilweise weichen die jeweiligen nationalen Regeln hierzu auch stark voneinander ab.
Grundsätzlich ist im deutschen Recht Rechtsfolge des Wegfalls der Geschäftsgrundlage, dass die Parteien gehalten sind, den Vertrag neu zu verhandeln und den Umständen anzupassen. Ausgeschlossen ist jedoch die Anwendung des Rechtsinstituts des Wegfalls der Geschäftsgrundlage, wenn eine Partei gemäß dem Vertrag genau dieses spezifische Risiko zu tragen hatte, zum Beispiel langfristige Lieferverträge für Rohstoffe, wenn genau dieses Beschaffungs- und/oder Preisrisiko den Gegenstand des Vertrages bildet.
Soweit nationale Rechtsordnungen den Parteien aufgeben, im Falle des Wegfalls der Geschäftsgrundlage den Vertrag neu auszuhandeln, und die Neuverhandlung scheitert, können die Folgen eines solchen Scheiterns unterschiedlich sein: Nach einigen Rechtsordnungen hat nur die benachteiligte Partei das Recht, den Vertrag zu kündigen, während in anderen nationalen Rechtsordnungen die benachteiligte Partei das Recht hat, die Anpassung des Vertrags an die veränderten Umstände durch den Richter oder Schiedsrichter zu verlangen.
Um die Rechtssicherheit zu erhöhen, steht es ihm Parteien frei, diese Situation in ihrer Vereinbarung unabhängig von dem für den Vertrag geltenden Recht zu regeln. Die ICC-Härteklausel beabsichtigt, dieses Bedürfnis durch eine Standardklausel zu befriedigen, die in einen individuellen Vertrag aufgenommen werden kann.
Die Frage, in welchem Umfang und wie genau der Vertrag auf die neuen Verhältnisse anzupassen ist, ist naturgemäß äußerst umstritten. Fraglich ist , ob es im Interesse der Parteien entspricht, im Falle des Wegfalls der Geschäftsgrundlage der Vertrag durch eine dritte Partei (Richter, Schiedsrichter) anzupassen, falls die Parteien nicht in der Lage sind, sich auf eine Verhandlungslösung zu einigen. Hierzu sieht der Vorschlag der ICC zunächst grundsätzlich zwei Optionen vor, zwischen denen die Parteien wählen können: Anpassung oder Beendigung des Vertrages.
Absatz 3 befasst sich mit der Fallgestaltung, dass die Parteien nicht in der Lage sind, alternative Vertragsbedingungen zu vereinbaren. In diesem Fall gibt es hauptsächlich zwei Möglichkeiten: Vertragsauflösung durch eine der Parteien oder Anpassung oder Auflösung durch den nach dem Vertrag zuständigen Richter oder Schiedsrichter. Bei Option A ist die Partei, die sich auf eine Härtefallregelung beruft, berechtigt, den Vertrag auf eigene Initiative zu kündigen.
Bei Option B (die nach einer Reihe nationaler Gesetze sowie nach den Unidroit-Priciples zulässig ist) haben die Parteien das Recht, einen Richter oder Schiedsrichter zu ersuchen, den Vertrag anzupassen oder aufzulösen. In diesem Fall kann der Richter oder Schiedsrichter entscheiden, welche der beiden Alternativen angemessener ist, insbesondere wenn eine Anpassung vernünftigerweise nicht möglich ist.
Wird die Option B für nicht sachgerecht erachtet, können die Parteien die Option A oder C wählen, die keine Anpassung des Vertrags durch den Richter oder Schiedsrichter beinhaltet. Bei Option A ist die Partei, die sich auf eine Härtefallregelung beruft, berechtigt, den Vertrag auf eigene Initiative zu kündigen - und die andere Partei kann danach die Rechtswidrigkeit dieser Entscheidung geltend machen -, während bei Option C jede Partei den Richter oder Schiedsrichter ersuchen kann, die Auflösung des Vertrages zu erklären.
Entscheiden sich die Parteien für eine Anpassung, kann vorgeschlagen werden, dass der Richter oder Schiedsrichter die Parteien auffordert, Vorschläge für die erforderlichen Anpassungen vorzulegen, die als Ausgangspunkt für die Anpassung des Vertrags genommen werden könnten.
Die jeweiligen Optionen entziehen sich einer pauschalen Betrachtung, weswegen zu empfehlen ist, die Hardship-Clause nicht schematisch anzuwenden, sondern die jeweils zur Verfügung gestellten Optionen situationsadäquat auszuwählen.
Autor:
Guido Imfeld
Rechtsanwalt/Avocat/Advocaat
Fachanwalt für internationales Wirtschaftsrecht, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht, Fachanwalt für gewerblichen Rechtsschutz, Wirtschaftsmediator
Avocat (BE), Avocat spécialisé en droit des affaires internationales, Avocat spécialisé en droit commercial et des sociétés, Avocat spécialisé en droit de propriété intellectuelle, Médiateur en droit des affaires
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Jülicher Straße 215
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Fon: +49 241 946 21-0
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German-Belgian Desk: +49 241 94621-170 (Joelle Debey)
E-Mail: imfeld@dhk-law.com
Internet: www.dhk-law.com
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rue Louvrex 55-57
B-4000 Liège (Lüttich/Luik)
Bildquelle: © Logo der International Chamber of Commerce (wikipedia)
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